Tanzende Buchstaben – inwiefern kann Bewegung Lernen erschließen?

Die Integration von Flüchtlingskindern und -jugendlichen ist eine herausfordernde Aufgabe, mit denen sich viele deutschen Schulen vermehrt beschäftigen müssen. Wie können Kinder unterschiedlicher Kulturen mit oft traumatischen Fluchterfahrungen erfolgreich Deutsch lernen und gut im Schulsystem aufgenommen werden? Wie kann diese Aufgabe im Schulalltag neben vielen weiteren Anforderungen bewältigt werden? Diese Aufgabe ist oft besonders komplex an Grundschulen in sogenannten Brennpunkt-Vierteln, deren Klassen bereits einen hohen Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund vorweisen. Ein möglicher Ansatz wäre jener der Kulturellen Bildung, der über verschiedene Kunstformen ästhetische Lernzugänge im Unterricht eröffnet. Als nonverbale Darstellungsform ist Tanz besonders gut geeignet für Kinder und Jugendliche, die die deutsche Sprache noch nicht beherrschen. Tanz ist eine Form körperlichen Denkens. Gesten werden häufig spontan benutzt, um Worte zu betonen und größere Ausdruck zu verleihen. Forschungsergebnisse aus der Neurowissenschaft weisen darauf hin, dass im Körper und in der Bewegung die Wurzel allen Lernens liegt. Diese Erkenntnis und meine langjährige Berufserfahrungen als Tanzvermittlerin führten mich zu der Überzeugung, dass Tanz vielseitige Möglichkeiten bietet, die Sprachentwicklung ergänzend zu fördern und deshalb bei der Integrationsarbeit mit Flüchtlingskindern sehr hilfreich sein könnte.

Um diese Überzeugung gleich in die Praxis umzusetzen, wurde ein Pioneer-Tanzprojekt in Kooperation mit der Grundschule Brückenhof-Nordshausen in Kassel geplant, der im Dezember 2016 begann. Das Projekt „Tanzende Buchstaben“ richtete sich an Kinder der ersten Klasse. Nach Absprache mit dem Lehrerteam des ersten Schuljahrs wurde das Projekt auch für andere Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund geöffnet, die sich mit dem Erlernen der deutschen Buchstaben schwer taten. Das ursprüngliche Konzept sah vor, Schriftformen tänzerisch zu erkunden. Die Kinder sollten mit ihrem ganzen Körper allein, zu zweit oder in Kleingruppen Buchstaben bilden und vertanzen.

Die ersten beiden, äußerst turbulenten Tanzstunden machten deutlich, dass die ursprüngliche Zielsetzung des Projekts an den Bedürfnissen der Kinder vorbei ging. Andere Fähigkeiten müssten erstmal entdeckt und erlernt werden: das Zuhören, eine motorische Differenzierung zwischen zügigen und ruhigen Bewegungen, Konzentration und eine Achtsamkeit im Umgang mit anderen. Aus dem ersten Konzept entwickelte sich eine neue Fragestellung: Wie könnte es möglich sein, diesen energiegeladenen und oft unruhigen Kinder zu helfen, die vorgenannten Fähigkeiten, die alle wichtige Voraussetzungen für das Lernen darstellen, zu erlernen? Die Gelegenheit, bei einer Lehrerin im Unterricht zu hospitieren und sich über die Schüler auszutauschen, war dabei besonders hilfreich und lieferte einige Erkenntnisse. Der freigeräumte Musikraum, der ausreichend Bewegungsraum zum Tanzen zur Verfügung stellte, lud natürlich auch zum Toben ein. Einigen Kindern fiel es schwer, mit der Freiheit dieser offenen Struktur umzugehen. Sie sprangen ausgelassen durch den Raum oder verstecken sich unter Tischen. Daraufhin wurden Kreuze auf dem Boden mit Malerkrepp markiert. Jedes Kind durfte sich einen Platz aussuchen und den Platz mit dem eigenen Namen versehen. Auf einmal entstand ein schöner Kreis, eine Struktur wurde etabliert und jeder Teilnehmer konnte alle anderen sehen und selbst gesehen werden. Diese kleine Zeremonie zum Anfang der Stunde wurde sofort angenommen. Das Gespräch mit der Lehrerin bestätige weiterhin den Eindruck, dasses wichtig wäre, den Kinder nicht nur Bewegungen beizubringen, sondern ihnen auch dabei zu helfen, Stille zu entdecken. Sie haben es tatsächlich genossen, nicht nur große, wilde Bewegungen zu machen, sondern auch z.B. die Aufgabe, ganz langsam wie eine Sonnenblume zu wachsen. In dieser neuentdeckten Ruhe wurde es langsam möglich, kleine Improvisationsaufgaben einzuführen. Ein weiteres Unterrichtsziel war das Einüben von sozialen Kompetenzen. Jedes Kind durfte z.B. aus dem Kreis in die Mitte gehen und eigene Bewegungen vorführen.  Keine Bewegung wurde als „blöd“ abgestuft, sondern von allen anderen Teilnehmern übernommen. Diese einfache Übung wurde sehr gerne ausgeführt und erwies sich als besonders wertvoll beim Erlernen einiger sozialen Kompetenzen (Wahrnehmung von Bewegungen; geduldig zu warten, bis man selbst dran kommt; anderen zuzuhören und zu ermutigen, die Zugehörigkeit zur Gruppe).

Nach und nach kamen die einzelnen aufgeregten und kreativen Erstklässler mehr zum Vorschein. Alle Kinder kamen grundsätzlich gerne in den Unterricht, obwohl sie zur sechsten Stunde generell ziemlich müde waren. Mit der Zeit wurde es sogar schwer, den Unterricht zu beenden. Einige Kinder wollten den Raum nicht verlassen, weil sie weiter tanzen wollten. Am Ende des Projekts im März waren einige positive Entwicklungen im Verhalten der Kinder zu bemerken. Ob die neu erprobten Fähigkeiten in den Schulalltag umgesetzt werden können, muss noch festgestellt werden und ist nicht einfach zu messen.

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