Tanz als Sprache in Marburg

Es begann im November mit einem Anruf von einem Kommilitonen. Marcus Kauer, stellvertretender Schulleiter in Marburg, fragte ob ich mir vorstellen könnte, ein Tanzprojekt mit zwei Sprach-Intensivklassen für geflohene Jugendliche durch zu führen. Vier Monate später befand ich mich mit einer Assistentin (die Studentin Juliane Wetzel), 25 Jungs und fünf Mädchen und ihren drei Lehrern in der Turnhalle der Gesamtschule Richtsberg. Ziel des Workshops war eine tänzerische Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache.

Im Vorfeld besuchte ich die Klassen um das Projekt vorzustellen und die Jugendlichen kennen zu lernen. Ich bat sie ein paar Sätze über sich selbst, ihre Hobbys und ihre Familien aufzuschreiben. Bei einem zweiten Besuch wurden diese Sätze aufgenommen und vertont. Damit wollte ich ihnen die Gelegenheit geben, sich selbst, ihre Wünsche und Vorlieben vorzustellen.

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Wir trafen uns täglich für vier Schulstunden in der Turnhalle. Nach Aufwärmübungen wurden verschiedene deutsche Begriffe eingeführt (Emotionen, Präpositionen, Verben) und körperlich entdeckt. Jeder Teilnehmer durfte Bewegungen erfinden und Aufgaben für andere ausdenken.

Es war nicht einfach, die Jugendliche bei der Stange zu halten. Obwohl sie alle begeistert mitmachten, ließ ihre Motivation immer wieder  nach. „Ich bin müde“ oder „Schmerzen“ waren die häufig erwähnten Ausreden für eine Auszeit. Einige zeigten wiederum ein hohes Durchhaltevermögen. Ich war jedenfalls am Ende jeder Einheit immer völlig verausgabt. Im Laufe des Projekts wurde mir das Ausmaß der Herausforderungen bei der Integration bewusst und ich gewann einen tiefen Respekt vor den LehrerInnen, die mit großer Hingabe den Jugendlichen nicht nur beim Erlernen der deutschen Sprache helfen, sondern ihnen einen strukturierten Tagesablauf beibringen und kulturelles Verständnis vermitteln.

Mir war es ein besonders Anliegen, die Choreographien gemeinsam mit den Jugendlichen zu entwickeln und ihnen die Chance zu geben, Tanz als Ausdrucksmöglichkeit zu entdecken. Gerade in einer Lebensphase, in der die Teilnehmer ihre Gefühle und Talente wegen mangelnder Sprachkenntnisse nur eingeschränkt kommunizieren können, war es für sie wohltuend, ihre körperlichen Fähigkeiten zu demonstrieren. Beispielsweise beherrschten viele von ihnen hervorragende Turnkunststücke. Diese wurden in die Choreographie eingebaut. Die nonverbale Kommunikation miteinander und die geteilte Euphorie über die entstandenen Tänze und den gelungenen Auftritt rief zudem ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl unter den Schülern hervor, das einen guten Beitrag zum friedlicheren Zusammenleben unter den verschiedenen Nationalitäten der Klassen leisten könnte.

 

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